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Abgestufter Lebensschutz für Ungeborene? Ein unhaltbares „Modell“!
Walter Rominger
Das Magazin „anstöße“, herausgegeben von der theologisch liberalen und politisch eher linksstehenden „Offenen Kirche. Evangelische Vereinigung in Württemberg“, zeichnet sich, nicht einmal verwunderlich, dadurch aus, dass es sich in aller Regel fast ausschließlich gesellschaftlicher und sozialpolitischer Themen annimmt. Diese werden dann weniger anhand der Heiligen Schrift und der kirchlichen Lehre behandelt, als vielmehr aufgrund gesellschaftlicher Strömungen und der Meinungen bestimmter Lobbygruppen und Pressuregroups. Das bedeutet in Wirklichkeit / Wahrheit einen Wechsel der Offenbarungsgrundlage: Nicht länger ist die unveränderliche/unwandelbare Heilige Schrift die Grundlage aus der Erkenntnisse gewonnen werden, sondern die fehlbare, oft rasch wechselnde Meinung gerade einflussreicher gesellschaftlicher Gruppen. So ist dies auch bei der Ausgabe 2/2024 der „anstöße“, die gewissermaßen als Themenheft dem Paragraphen 218 gewidmet ist („Titelthema: §218 und kein Ende“), der nach Meinung der „Ampel“-Koalitionäre in seiner jetzigen Form verschwinden soll und aus dem Strafgesetzbuch, in welchem er zur Zeit steht, gestrichen werden soll.
Dass man sich in der Kirche/den Kirchen dieses Themas annimmt, wenn von politischer Seite aus eine dermaßen große Veränderung angestrebt wird, dürfte nicht einmal strittig sein. Abzulehnen ist indes, wie dies im Magazin der Offenen Kirche geschieht. Biblische Aussagen dazu spielen kaum eine marginale Rolle. Auf die Heilige Schrift wird lediglich in einem Beitrag mit vier Bibelstellen verwiesen und zur Thematik festgestellt: „Die Bibel sagt nichts zu Abtreibungen“ (S. 5) und deshalb müssten „biblische Texte als Hinweise herangezogen und interpretiert werden“ (S. 5). Die gesamten Bibelstellen (fünftes Gebot: Du sollst nicht töten, 2.Mose 20,13; Psalm 139,13-16; Hiob 33,4; 1.Mose 2,7) werden sogleich auch wieder problematisiert und es entsteht der Eindruck, dass sie gegeneinander ausgespielt werden. Der Beginn des Lebens werde in der Bibel nicht bestimmt. Einerseits könne der Eindruck entstehen, bereits der Embryo sei ein fertiger Mensch, während andererseits sich nahelege, dass das Leben sich entwickle, wobei dies kein Widerspruch zu sein braucht, sondern als komplementär zu betrachten ist. Ein neuer Mensch, so auch die medizinische Einsicht, entsteht durch die Verschmelzung von Ei- und Samenzelle, woraus dann [durch Zellteilungen] ab der Nidation (Einnistung) der neue Mensch im Mutterleib heranwächst, der Individualität besitzt. Auch das Bundesverfassungsgericht hat betont, dass spätestens mit der Einnistuung der befruchteten Eizelle von einem menschlichen Leben auszugehen ist. Weil dieser Mensch von Anfang an ist, findet das fünfte Gebot Anwendung. Im Übrigen hat der Diognetbrief aus dem zweiten Jahrhundert nach Christus festgehalten, dass Christen keine Abtreibungen vornehmen, im Gegensatz zu Heiden, womit, wenn die Möglichkeit einer Abtreibung selbst für Christen bestehen soll, dies einen Rückfall ins Heidentum bedeutet. Die EKD-Denkschrift „Gott ist ein Freund des Lebens“ von 1989 brachte noch deutlich zum Ausdruck: „Schwangerschaftsabbruch soll nach Gottes Willen nicht sein.“ Innerhalb von gut 30 Jahren hat sich ein völliger Wechsel vollzogen, denn nach der in „anstöße“ 2/2024 vertretenen Meinung kann anscheinend ein Schwangerschaftsabbruch nach Gottes Willen sein. Sogar im vorchristlichen Hippokratischen Eid in dessen ursprünglicher Fassung wird Abtreibung ausgeschlossen. Das Selbstbestimmungsrecht der Frau endet dann, wenn durch die Verschmelzung von Ei- und Samenzelle ein neuer Mensch entstanden ist. Damit endet auch die Freiheit der Entscheidung, denn das Leben des noch Ungeborenen ist höher einzustufen als Entscheidungsfreiheit und Selbstbestimmungsrecht der Frau. Selbstbestimmung und Freiheit einzuschränken steht gegen kein göttliches Gebot, eine Abtreibung aber schon. Die Unantastbarkeit der Würde des Menschen, sowie das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit sind Grundrechte (vgl. GG 1,1 und 2,2). Zwar wird zugestanden, „das Gewissen“ „ist“ „keine irrtumsfreie Instanz“ (S. 5), dennoch scheint es als alleinige Richtschnur bei der Entscheidung für eine Abtreibung zu gelten. In der Tat ist das Gewissen manipulierbar und das autonome Gewissen, von welchem im Beitrag anscheinend ausgegangen wird, keineswegs als Stimme Gottes zu qualifizieren, weshalb verantwortbare christliche Ethik das Gewissen als im Wort Gottes gefangen ansieht. Luther bekannte denn auch vor dem Reichstag in Worms 1521: „Mein Gewissen ist im Gotteswort gefangen.“ Auffallend ist, dass die Ausrichtung einseitig an Selbstbestimmung und autonomer Freiheit der schwanger gewordenen Frau erfolgt; ohne darüber zu reflektieren, dass Selbstbestimmung und Freiheit ihre (teils engen) Grenzen an den Rechten anderer finden, die gerade auch denen gelten, die diese selbst noch nicht einfordern können, und deshalb unter einem besonderen Schutz stehen, was für Ungeborene ganz elementar gilt. Für ungeborene Kinder als den Schwächsten der Gesellschaft gilt das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit (GG 2,2).
Geradezu einen Tiefpunkt ethischer Ausführungen zum Thema und eines Abdrucks selbst in einem linksliberalen Magazin unwürdig, stellt ein anonymer Beitrag dar (S. 8), in welchem die Autorin die an ihr vor 30 Jahren durchgeführte Abtreibung durch den inzwischen fast 80-jährigen „Abtreibungsarzt“ Friedrich Stapf, der in über 40 Jahren tausende von Abtreibungen durchgeführt hat, nur positiv zu denken vermag. Im Rückblick heißt es in der Überschrift beinahe verklärt: „Kein Zweifel, kein Konflikt, kein Trauma“. Wenn dem ehrlicherweise so ist, stellt sich schon die Frage, welch weites Gewissen die Autorin denn hat; im Wort Gottes gefangen ist es jedenfalls nicht; ein untrügliches Organ oder gar Stimme Gottes zu einer ethisch verantwortbaren Entscheidung war ihr Gewissen nicht. Hatte sie keine Gewissensbisse in all den Jahren? Fühlte sie sich immer mit sich und Gott im Reinen? Oder ist es bereits zu viel verlangt, hier Gott überhaupt gewissermaßen als Gesprächspartner ins Spiel zu bringen? Eine ungewollte Schwangerschaft - wie in diesem Fall sogar mit Zwillingen - zu einem gefühlten unpassenden Zeitpunkt und einem scheinbar ungeeigneten Partner, kann nicht den Grund für eine Abtreibung liefern. Und zwei spätere Schwangerschaften – davon wiederum eine mit Zwillingen – mit dem scheinbar richtigen Partner und zum scheinbar geeigneten Zeitpunkt, machen die Abtreibung der ersten Zwillinge nicht ungeschehen und entschuldigen diese so wenig wie die dafür vorgegebene prekäre Situation. Wie empathie- und herzlos muss eine Frau sein, wenn sie gegen Ende ihres Beitrags schreibt: „Ich habe nie darüber nachgedacht, ob es vielleicht doch besser gewesen wäre, diese Kinder zu bekommen. Ich habe nie versucht, mir vorzustellen, wie sie ausgesehen hätten. Ich habe meine Entscheidung nie bereut und nie angezweifelt. Es war alles gut, so wie es war.“ Diese Selbstsicherheit hat so manch andere Frau die abgetrieben hat, nicht. Bei ihr meldet sich das Gewissen. Sie stellt sich gerade die Fragen, die die anonyme Autorin sich – ihren Aussagen zufolge – nie stellte. Sie bereut ihre Entscheidung und findet es alles andere als gut, so wie es ist. Mit welcher emotionalen Kälte ohne jegliches mütterliche Empfinden, obschon sie mehrfache Mutter ist, und bei ihrer Schwangerschaft mit den dann abgetriebenen Zwillingen bereits einen einjährigen Sohn hatte, sie berichtet, ist erschreckend. Es wirkt, als vollziehe sich ein emotions- und seelenloser technischer Vorgang. Es stellt sich schließlich bei ihr ganz allgemein die Frage, wie ihr Umgang mit gerade unpassenden Situationen ist. Versucht sie ihnen auszuweichen, indem sie den für sie gerade leichteren Weg wählt? Die Wahl des gerade leichteren Weges in Konfliktsituationen erweist sich in aller Regel am Ende als die falsche Wahl. Dies im Schwangerschaftskonfliktfall zu bedenken dürfte sich als zielführend erweisen.
Zumindest auf den ersten Blick erscheint der abschließende Beitrag (S. 10f.) anders ausgerichtet zu sein. Der Autor berichtet darin, wie ein Frauenarzt seiner Frau, die mit Zwillingen schwanger war, und ihm empfohlen habe, wegen der schlechten Versorgung eines Kindes eine Abtreibung vorzunehmen. Seine Frau und er hätten die Praxis unter Protest verlassen. Sie bekamen gesunde Zwillinge und als er Jahre später seinen Zwillingen erzählte, der Frauenarzt habe damals zu einer Abtreibung geraten, seien sie in Tränen ausgebrochen, weil sie sich nicht haben vorstellen können, dass ein Arzt ihr Leben nicht gewollt habe. Die Eheleute hatten bereits zwei Kinder und teilten sich ihre erste Pfarrstelle. Aber sie wollten die Kinder und deshalb kam für sie eine Abtreibung überhaupt nicht in Frage. Sie haben sich alle vier Kinder gewünscht, auch wenn eines eine Behinderung mitgebracht hätte. Doch ein zweiter Blick tut gut, wiewohl die damit aufbrechende Frage sich kaum beantworten lässt: Und wie wären sie verfahren, wenn ein Kind nicht gewünscht gewesen wäre? Hätten sie dann auch so überzeugt Ja zu ihm gesagt? Das scheint keineswegs eindeutig zu sein, heißt es doch: „Aber wir wissen, dass sich das ungeborene Leben nicht gegen den Willen der werdenden Mutter schützen lässt“ (S. 10). „Es bleibt ein Dilemma: zum einen gilt es, das Leben von Ungeborenen zu schützen. Zum andern ist das Selbstbestimmungsrecht einer werdenden Mutter zu achten“ (S. 11). Doch hier gilt, das Selbstbestimmungsrecht gilt (nur) bis zur Zeugung. Doch ist erst einmal ein neuer Mensch gezeugt, so hat das Leben des Ungeborenen Vorrang vor dem Selbstbestimmungsrecht und ist zu schützen, unter Umständen selbst gegen und vor dem Selbstbestimmungsrecht der Frau. Der Verfasser und seine Frau „sind von der Rosenheimer Erklärung inspiriert“. Diese Erklärung von 1991 – sie mag heue bereits als fast konservativ erscheinen verglichen mit den liberalen Entwürfen, die seither entstanden sind – hat jedoch die Weichen hin zu diesen gestellt, indem sie die letzte Verantwortung der Frau zuweist. Damit wird das Selbstbestimmungsrecht der Frau entscheidend und dem Lebensrecht des ungeborenen Kindes vorgeordnet. Sie wird aber auch alleingelassen.
Ein weiterer Bericht befasst sich mit pro familia in Stuttgart (S. 6f.), einer inzwischen fast 60 Jahre alten Einrichtung. Deren Geschäftsführerin möchte, dass die Themen Schwangerschaftskonflikt und Schwangerschaftsabbruch „im Rahmen des Gesundheitswesens“ geregelt werden; das Strafgesetzbuch sei keinesfalls der richtige Ort dafür. Allerdings ist eine Schwangerschaft keine Krankheit. Deshalb verwundert es nicht, wie sich pro familia in Stuttgart positioniert. In den Fenstern dieser Einrichtung, von Passanten gut lesbar, steht: „218 muss weg!“ Mit rund 1000 Beratungen pro Jahr ist diese Stelle gut frequentiert. Eine Zwangsberatung ist nach Ansicht der Geschäftsführerin nicht der richtige Weg. 70 Prozent der Frauen haben sich ihrer Angabe nach bereits entschieden, wenn sie zu pro familia kommen. Vielleicht sind es so viele, weil sie dort leicht den Beratungsschein bekommen. Andere, die noch mit sich ringen, suchen eventuell eher eine Beratungsstelle in anderer Trägerschaft auf. Sie kritisiert, dass nach derzeitiger Rechtslage Frauen nicht zugetraut werde, eigenständig eine Entscheidung zu treffen, was sie in einem problematischen Frauenbild begründet sieht. Deshalb müsse die Entscheidung hauptsächlich bei der Frau – natürlich in Rücksprache mit dem Erzeuger – liegen. Dabei ist es in nicht wenigen Fällen gerade der Erzeuger, der eine Schwangere zur Abtreibung drängt. Sie vertritt einen „abgestuften Lebensschutz“. In den ersten zwölf Wochen solle die Frau selbständig über den Abbruch entscheiden können – und danach im Prinzip auch. Dass in der Debatte der Schutz des ungeborenen Lebens überbetont werde, will nun nicht einleuchten und kann eigentlich nur von strikten Abtreibungsbefürwortern kommen. Die Geschäftsführerin und Ärztin findet theoretische Debatten darüber, wann das Leben beginne, nicht zielführend, schon allein deshalb, weil dies eine Definitionsfrage sei und diese sich nicht eindeutig beantworten lasse. Daher müsse es sichere und legale Möglichkeiten zum Schwangerschaftsabbruch geben. Doch selbst dann, wenn es nicht sicher wäre, ob das Leben mit der Zeugung beginnt, käme eine Abtreibung nicht in Betracht, da es bei dieser Betrachtungsweise ja mit der Zeugung beginnen könnte. Das Leben beginnt nicht erst, wenn das Kind auch außerhalb des Mutterleibes lebensfähig ist (nach der 22. Schwangerschaftswoche). Die Geschäftsführerin und Ärztin gibt den Kirchen eine Mitschuld, dass die Debatte um Abtreibung so emotionalisiert ist. Der Papst habe in diesem Zusammenhang von Mord gesprochen und die württembergische Landeskirche habe vor nicht allzu langer Zeit ihre brüderliche Einigkeit mit der katholischen Kirche betont, wobei sich die Bischöfe beider Kirchen für den 1993 gefundenen Kompromiss beim §218 aussprechen. Doch bereits dieser Kompromiss darf als fragwürdig gelten. Die Beratungsstelle von pro familia Stuttgart wertet das Selbstbestimmungsrecht der schwangeren Frau stärker als das Lebensrecht des ungeborenen Kindes. Verräterisch ist die Ansicht, in der Debatte werde der Schutz des ungeborenen Lebens überbetont. Das Lebensrecht darf indes nicht in Frage gestellt werden, auch nicht durch das Selbstbestimmungsrecht. Dass bei pro familia in Stuttgart eine Beratung für das Leben stattfindet, kann nicht erwartet werden.
Dem Interview mit zwei Beraterinnen in kirchlichen/diakonischen Einrichtungen (S. 9f.) kann nicht entnommen werden, dass sie das Selbstbestimmungsrecht der schwangeren Frau dem Lebensrecht des ungeborenen Kindes überordnen. Sie wollen in ihren Beratungen einen Reflexionsraum bieten. Die Entscheidung für oder gegen einen Abbruch einer Schwangerschaft sei „immer ein Güterkonflikt“. „Das Selbstbestimmungsrecht der Frau steht dem Schutz des ungeborenen Lebens gegenüber.“ Im Interview ist davon die Rede, dass Frauen in der Beratung über Hilfsangebote informiert werden, von denen sie oft gar nichts wissen, etwa über finanzielle Hilfen, aber auch über psychosoziale Betreuung während der Schwangerschaft; eine seelsorgerliche Begleitung findet keine Erwähnung. Allein in diesem Beitrag ist von Hilfen für Schwangere die Rede, die diese veranlassen können, die Schwangerschaft fortzusetzen. Denn in manchen Fällen hängt die Fortsetzung ja gar nicht unwesentlich von materiellen Hilfen ab. Deshalb sollten diese verstärkt bekanntgemacht werden und möglicherweise ausgebaut werden. Über die medizinischen Rahmenbedingungen eines Abbruchs wird bei den Beratungen auch gesprochen und freilich erhalten die schwangeren Frauen auch einen Beratungsschein, der eine straffreie Abtreibung in den ersten zwölf Wochen ermöglicht. Aber es entsteht der Eindruck, als werde bei diesen Beratungen nicht für eine Abtreibung beraten. Bei pro familie in Stuttgart drängt sich der gegenteilige Eindruck auf. In gewisser Weise hebt sich dieser Beitrag von den andern ab, wiewohl wünschenswert wäre, dass die Beratung zum Leben stärker zum Ausdruck käme.
Der einleitende Beitrag (S. 3f.) will einen „Einblick in die aktuelle kirchliche Diskussion zu §218 StGB“ geben. In ihm werden die zur Zeit virulenten kirchlichen Positionen benannt, die, soweit sie kurz beschrieben werden, dies zutreffend werden, obschon nicht alle genannt sind, sondern lediglich drei exemplarisch vorgestellt werden. Die Stellungnahme des Diakonischen Werkes der EKD fehlt; diese spricht sich für eine weitgehende Liberalisierung des Abtreibungsparagraphen aus und ähnelt darin sehr der Stellungnahme der Evangelischen Frauen in Deutschland (EFiD). Anlass für diese Stellungnahmen ist, dass die Bundesregierung 2023 eine Kommission zur reproduktiven Selbstbestimmung zur Fortpflanzungsmedizin eingesetzt hat, die klären soll, ob und gegebenenfalls wie die Regulierung des Schwangerschaftsabbruchs außerhalb des Strafgesetzbuches getroffen werden kann. Die Kirchen haben keinen Sitz in der Kommission. In früheren Zeiten wären sie bestimmt in der Kommission vertreten gewesen. Immerhin wurden sie um eine Stellungnahme gebeten, wobei diese wahrscheinlich sogar Berücksichtigung fand und sei’s auch nur als „moralischer Persilschein“.
Die Evangelischen Frauen in Deutschland (EFiD) fordern, den §218 aus dem Strafgesetzbuch zu entfernen. Es sei nicht Aufgabe des Staates, Schwangerschaftsabbrüche strafrechtlich zu belangen und diese gar mit Tötungsdelikten wie Mord und Totschlag in Verbindung zu bringen. Vielmehr sollten Staat und Gesellschaft Schwangeren bestmöglich bei deren Entscheidungsfindung unterstützen. Wie diese Unterstützung aussehen soll, legen die Evangelischen Frauen in Deutschland (EFiD) offen. Das Schwangerschaftskonfliktgesetzt könnte um eine Fristenregelung ergänzt werden. Die sprechen sich für ein abgestuftes Lebensrecht aus. Da in den ersten Wochen und Monaten das werdende Leben nicht ohne die werdende Mutter lebensfähig sei, sei es schwierig, in dieser Zeit das Lebensrecht des werdenden Lebens unabhängig vom Selbstbestimmungsrecht der werdenden Mutter zu betrachten, da es überhaupt nicht ohne sie gedacht werden könne. Deshalb kann nach Ansicht der EFiD lediglich die Schwangere die Beziehung in ihrer Gesamtheit und jeweiligen Einzigartigkeit beurteilen, weshalb auch ihr allein die ethische Bewertung und Entscheidung zustehe. Die Heilige Schrift scheint überhaupt nicht befragt zu werden. Diese Argumentation könnte auch von atheistischen Humanisten stammen. Für eine evangelische Organisation ist eine solche Position schlichtweg skandalös und sie muss sich fragen lassen, ob sie überhaupt noch evangelisch ist oder sein will.
Ähnlich argumentiert der Rat der EKD. Auch er ist für eine Regelung des Schwangerschaftsabbruchs in bestimmten Fristen außerhalb des Strafgesetzbuches, will aber, anders als die EFiD, aufgrund der „irreversiblen Tragweite“ der Entscheidung die Beibehaltung der Beratungspflicht. Es gehe „um den größtmöglichen effektiven Schutz des Lebens nicht gegen die Rechte der Frau, sondern durch deren Stärkung“. Eine „vollständige Entkriminalisierung“ hält der Rat der EKD nicht für vertretbar, weil der Staat die Verpflichtung für den Schutz des Lebens habe. Er spricht sich für ein „abgestuftes Fristenkonzept“ aus. Dabei soll zwischen den verschiedenen Schwangerschaftsstadien unterschieden werden, wobei dem Recht des werdenden Lebens in Abwägung mit dem Selbstbestimmungsrecht der Schwangeren mit fortschreitender Schwangerschaft zunehmendes Gewicht einzuräumen sei. Das Lebensrecht des Ungeborenen nimmt mit der Zeit zu. Das entspricht der Vorstellung der Evangelischen Frauen in Deutschland (EFiD), welche sich für ein abgestuftes Lebensrecht ausspricht, wie auch pro familia in Stuttgart (und bestimmt nicht nur dort) einen „abgestuften Lebensschutz“ vertritt. Von kirchlichen/evangelischen Organen sollte man aber doch eine höhere Ethik erwarten dürfen als von einer ethisch liberalen, säkularen Organisation. Wenn der Mensch aber Mensch ab der Zeugung ist, also Mensch von Anfang an ist, dann kann es, wenn es um seinen Schutz geht, nicht eine Einteilung in verschiedene Entwicklungsstadien geben, wonach sein Schutz mit fortschreitender Entwicklung zunehmen würde. Dann ist er während der gesamten Schwangerschaft gleich zu schützen. Die Argumentation mit abgestuftem Schutzstatus, wie sie EFiD und Rat der EKD vertreten, erscheint sophistisch und willkürlich. Von der Position des Rates der EKD von 1989, wonach „Schwangerschaftsabbruch nach Gottes Willen nicht sein soll“ (in der Denkschrift: „Gott ist ein Freund des Lebens“, Kap. 6, Abs. 2) ist der derzeitige Rat der EKD sehr weit entfernt, denn nach dem Rat der EKD darf Schwangerschaftsabbruch sein.
Von den beiden genannten Positionen unterscheidet sich die gemeinsame Stellungnahme des Landesbischofs der Evangelischen Landeskirche in Württemberg, Ernst-Wilhelm Gohl und seines katholischen Kollegen, des Bischofs der Diözese Rottenburg-Stuttgart, Gebhard Fürst, ganz wesentlich. Während sich EFiD und Rat der EKD in ihren Stellungnahmen für die Abschaffung des §218 StGB in seiner jetzigen Form aussprechen, wollen die beiden Bischöfe den 1993 gefundenen Kompromiss, der sich im §218 StGB niederschlägt, festhalten. Nach der Wiedervereinigung musste in der Abtreibungsfrage ein Kompromiss gefunden werden. In der Bundesrepublik Deutschland galten strengere Regeln als in der DDR. Als Kompromiss kam heraus, dass eine Abtreibung zwar grundsätzlich verboten ist, sie aber in den ersten zwölf Wochen straffrei bleibt, wenn sich die schwangere Frau in einer staatlich anerkannten Beratungsstelle hat beraten lassen und einen Schein vor dieser Beratung vorlegen kann. Freilich entbehrt dieses Gesetz der Logik. Allein dass ein Gespräch stattfindet, entscheidet darüber, ob etwas unter Strafe steht oder aber erlaubt ist. Ein Gespräch, dessen Inhalt nicht einmal so wichtig zu sein scheint und von dessen Inhalt freilich niemand etwas erfahren darf, weil es unter der Verschwiegenheit stattfindet, entscheidet über Leben und Tod. Zudem hat das Bundesverfassungsgericht von einer „grundsätzlichen Rechtspflicht“ der Schwangeren, das Kind auszutragen, geurteilt. Dies soll an dieser Stelle nicht weiter vertieft werden. Doch soll darauf hingewiesen werden, dass durch die gesetzliche Regelung nach einer Beratung eine Abtreibung in den ersten zwölf Wochen straffrei bleibt, in der Öffentlichkeit weithin die Ansicht herrscht, Abtreibung sei (in den ersten zwölf Wochen) erlaubt. Die beiden Bischöfe vermissen eine „profunde theologische Erklärung“ dafür, den 1993 gefundenen Kompromiss in Frage zu stellen. Sie lehnen eine abgestufte Fristenkonzeption, die „willkürlich verschiedene Schwangerschaftsstadien unterscheide“, ab. Sie fordern den Schutz des „ungeborenen Lebens von Beginn an“. Auch befürchten sie, eine Neuregelung außerhalb des Strafgesetzbuches könnte das faktische Aus für die Beratung sein, auch wenn Einigkeit bestehe, das Beratungsnagebot sogar noch auszubauen. Doch was nützt ein weiterer Ausbau des Beratungsangebots, wenn nicht zur Fortsetzung der Schwangerschaft beraten wird? Die Zahl der Abtreibungen sinkt dann nicht. Die beiden Bischöfe sprechen sich dafür aus, dass „die Gesellschaft familienfreundliche und unterstützende Rahmenbedingungen für Kinder schafft“. Das ist unterstützenswert, wiewohl dies den Trend nicht umkehren dürfte.
Erschreckend mag durchaus sein, dass im Magazin „anstöße“ derartige Positionen wie oben dargestellt, vertreten werden. Das mag selbst dann zum Erschrecken sein, wenn bedacht wird, dass dieses Magazin das Organ der links-liberalen „Offenen Kirche“ in der württembergischen Landeskirche ist. Weitaus schlimmer erscheint jedoch, welch verheerende Position der Rat der EKD einnimmt. Denn die „Offene Kirche“ ist kein (Leitungs)Organ einer Kirche, der Rat der EKD aber durchaus. Er ist das Leitungsorgan der Evangelischen Kirche in Deutschland, die sich als „Dachorganisation“ der Landeskirchen (Gliedkirchen) versteht. Der Rat der EKD vertritt eine Position, die deutlich hinter den Abtreibungskompromiss, der im derzeitigen §218 StGB festgehalten ist, zurückfällt. Somit ist die Position der evangelischen Kirche eine liberalere als das zurzeit noch geltende staatliche Recht. Dabei ist dieser für eine verantwortbare evangelische Ethik bereits fragwürdig. Allem Anschein nach vertritt der Rat der EKD in diesem Fall eine Ethik, die sich kaum mehr grundlegend von der der derzeitigen Staatsregierung unterscheiden dürfte, die den §218 ja auch abschaffen möchte. Das hat Signalwirkung, auch für die Regierung. Für eine Kirche erscheint es indes als Armutszeugnis, wenn sich die von ihr vertretene Ethik bei einer solch gravierenden Angelegenheit nicht grundlegend von der einer sozialliberalen Regierung unterscheidet. Eine Regierung wird bis zu einem gewissen Grade (ganz) verschiedene Ansichten unter einen Hut zu bringen haben und deshalb zu Kompromissen bereit sein müssen (der derzeitige §218 ist ein solcher Kompromiss). Bei einer Kirche wird die Kompromissbereitschaft nie so weit gehen können. Denn ihre Bindung an die Heilige Schrift, ihre Bekenntnisse und Ordnungen setzen ihrer Kompromissmöglichkeit teils enge Grenzen. Für eine Regierung gelten diese engen Grenzen so nicht. Aufgabe der Kirche wäre, bei einem derart wichtigen ethischen Thema kritische Instanz dem Staat gegenüber zu sein und diesem gerade nicht durch Anpassung an dessen Vorstellungen einen „moralischen Persilschein“ zu liefern. Eine derartige Position ist einer evangelischen Kirche unwürdig. Es stellt sich sogar die Frage, ob das noch evangelische Kirche ist, wenn darunter verstanden wird, dass evangelische Kirche dem Evangelium gemäß sein soll/sollte. Doch das kommt heraus, wenn, wie bereits einleitend erwähnt, sich die Offenbarungsgrundlage verändert hat: Die Heilige Schrift wird ersetzt durch die tatsächliche oder auch nur vorgeschobenen lautstark vorgebrachten Meinungen der Gesellschaft. Dann haben Umfrageergebnisse und die Verlautbarungen von Demoskopen Offenbarungsqualität. Theologe ist durch Soziologie ersetzt. Das ist im Magazin „anstöße“ 2/2024 der Fall. Eine Orientierungshilfe im Schwangerschaftskonfliktfall ist sie keineswegs. Zur Versachlichung des Themas trägt sie nichts bei. Indem in der Tendenz einseitig auf das Selbstbestimmungsrecht der Frau abgehoben wird, bleibt diese letztlich auf sich selbst gestellt. Hilfe erfährt sie somit nicht. Damit wird der sich im Schwangerschaftskonflikt befindlichen Frau ein schlechter Dienst erwiesen. Nicht allein noch ungeborenes Leben wird zerstört, sondern mitunter auch – und nicht einmal so selten – das der Frau, die abtreiben lässt und diese Schuld ein ganzes Leben mit sich herumzutragen hat. Freilich, es ließe sich noch mehr zu diesem anscheinend endlosen Thema sagen. Aber es soll genügen.
Zum Schluss noch eine Bemerkung. Der wie dargelegt an sich unzulängliche Kompromiss zur Abtreibung, wie wir ihn im derzeitigen §218 StGB haben, könnte eventuell doch noch länger Bestand haben als so manchen lieb ist. Aus dem Bundesjustizministerium verlautete, da das Thema Abtreibung so emotionsbesetzt sei, sei in dieser Legislaturperiode wohl nicht mehr mit einer Neufassung eines Abtreibungsparagraphen zu rechnen.
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