Zurück zur Mitte!
Friedemann Lux

In "Pauli Gerhardi Geistliche Andachten, bestehend aus hundert und zwantzig Liedern", die erstmals 1666/67 erschienen, ist dieses "Passions-Lied" die Nr. 1 und umfasst zehn Strophen. In den heutigen evangelischen Liederbüchern führt das Lied ein Schattendasein. Im Evangelischen Gesangbuch der Landeskirchen ist es vorhanden, aber auf sieben Strophen reduziert. Die gleichen Strophen bietet das Gemeinschaftsliederbuch "Jesus, unsere Freude". Im Gesangbuch der Evangelisch-methodistischen Kirche von 2002 ist es gestrichen, auch in "Feiern und Loben", einem weiteren freikirchlichen Gesangbuch. Der Leser darf gerne in seinem Gedächtnis kramen, wann er dieses Lied zuletzt in einem Gottesdienst oder einer Passionsandacht gesungen oder gehört hat. Gut möglich, dass es in der Zukunft ganz aus den Gesangbüchern verschwinden wird.
Woran liegt das? Dass die Strophen so lang sind? Aber das sind sie in "Geh aus mein Herz und suche Freud" auch. Oder ist die Melodie zu schwer? Da gibt es bei "modernen" Liedern wesentlich härtere Brocken. Nein, das Problem liegt nicht im Formalen, sondern hundert Prozent im Inhalt. Dieses Lied ist politisch – pardon: religiös – nicht korrekt. So etwas wollen viele Gottesdienstbesucher und ihre Pastoren und Prediger heute nicht mehr hören, geschweige denn mitsingen. Denn der inhaltliche Kern dieses Liedes lautet:
Es gibt nur eine Möglichkeit, wie wir erlöst werden können: durch das Blut Jesu Christi, das dieser als Gottes Opferlamm am Kreuz von Golgatha vergossen hat. Dies ist der Mittelpunkt der Bibel.
Und das ist heute politisch, religiös und theologisch nicht mehr korrekt.
Aber jetzt lesen wir erst einmal den vollständigen Text von "Ein Lämmlein geht und trägt die Schuld":

1. Ein Lämmlein geht und trägt die Schuld
der Welt und ihrer Kinder.
Es geht und träget in Geduld
die Sünden aller Sünder.
Es geht dahin, wird matt und krank,
ergibt sich auf die Würgebank,
verzeiht sich aller Freuden.
Es nimmet an Schmach, Hohn und Spott,
Angst, Wunden, Striemen, Kreuz und Tod
und spricht: Ich will’s gern leiden.
---
2. Das Lämmlein ist der große Freund
und Heiland meiner Seelen.
Den, den hat Gott zum Sünden-Feind
und Sühner wollen wählen.
"Geh hin, mein Kind, und nimm dich an
der Kinder, die ich ausgetan
zur Straf und Zornes-Ruten.
Die Straf ist schwer, der Zorn ist groß.
Du kannst und sollst sie machen los
durch Sterben und durch Bluten."
---
3. "Ja, Vater, ja von Herzensgrund:
Leg auf, ich will dir’s tragen.
Mein Wollen hängt an deinem Mund,
mein Wirken ist dein Sagen."
O Wunder-Lieb! O Liebes-Macht!
Du kannst, was nie kein Mensch gedacht:
Gott seinen Sohn abzwingen.
O Liebe, Liebe, du bist stark,
du steckest den in Grab und Sarg,
vor dem die Felsen springen.
---
4. Du marterst ihn am Kreuzes-Stamm
mit Nägeln und mit Spießen.
Du schlachtest ihn als wie ein Lamm,
machst Herz und Adern fließen.
Das Herze mit der Seufzer Kraft,
die Adern mit dem edlen Saft
des purpur-roten Blutes.
O süßes Lamm, was soll ich dir
erweisen dafür, dass du mir
erzeigest so viel Gutes?
---
5. Mein Lebetage will ich dich
aus meinem Sinn nicht lassen.
Dich will ich stets, gleich wie du mich,
mit Liebes-Armen fassen.
Du sollst sein meines Herzens Licht,
und wenn mein Herz in Stücke bricht,
sollst du mein Herze bleiben.
Ich will mich dir, mein höchster Ruhm,
hiermit zu deinem Eigentum
beständiglich verschreiben.
---
6. Ich will von deiner Lieblichkeit
bei Nacht und Tage singen,
mich selbst auch dir zu aller Zeit
zum Freuden-Opfer bringen.
Mein Bach des Lebens soll sich dir
und deinem Namen für und für
in Dankbarkeit ergießen.
Und was du mir zu gut getan,
das will ich stets, so tief ich kann,
in mein Gedächtnis schließen.
---
7. Erweitre dich, mein Herzens-Schrein,
du sollst ein Schatz-Haus werden
der Schätze, die viel größer sein
als Himmel, Meer und Erden.
Weg mit dem Gold Arabia,
weg, Kalmus, Myrrhe, Kassia –
ich hab ein Bessers funden.
Mein großer Schatz, Herr Jesu Christ,
ist dieses, was geflossen ist
aus deines Leibes Wunden.
---
8. Das soll und will ich mir zu Nutz
zu allen Zeiten machen.
Im Streite soll es sein mein Schutz,
in Traurigkeit mein Lachen,
in Fröhlichkeit mein Saitenspiel,
und wenn mir nichts mehr schmecken will,
soll mich dies Manna speisen.
Im Durst soll’s sein mein Wasserquell,
in Einsamkeit mein Sprach-Gesell
zu Haus und auch auf Reisen.
---
9. Was schadet mir des Todes Gift?
Dein Blut, das ist mein Leben.
Wenn mich der Sonne Hitze trifft,
so kann mir’s Schatten geben.
Setzt mir des Wehmuts Schmerzen zu,
so find ich bei dir meine Ruh
als auf dem Bett ein Kranker.
Und wenn des Kreuzes Ungestüm
mein Schifflein treibet ümb und ümb,
so bist du dann mein Anker.
---
10. Wenn endlich ich soll treten ein
in deines Reiches Freuden,
so soll dies Blut mein Purpur sein,
ich will mich darin kleiden.
Es soll sein meines Hauptes Kron,
in welcher ich will vor dem Thron
des höchsten Vaters gehen
und dir, dem er mich anvertraut,
als eine wohlgeschmückte Braut
an deiner Seite stehen.


Dieses Lied haut einen entweder um oder macht einen verstockt. Aber schauen wir es uns der Reihe nach an. Strukturell zerfällt es in drei Teile: Die Strophen 1 bis 4 schildern das stellvertretende Sühneopfer Christi am Kreuz von Golgatha, Strophe 5 bis 8 zeigen die angemessene Reaktion auf dieses Opfer, die unser Leben prägen sollte, und die Strophen 9 und 10 führen das Lied zum Höhepunkt – dem Tod des Christen und der darauf folgenden großen Vollendung und himmlischen Hochzeit. Und das große Symbol, Bild und Leitmotiv, das die Strophen durchzieht und alles zusammenhält, ist – das Blut Christi.
Wir lesen noch einmal die erste Strophe:

1. Ein Lämmlein geht und trägt die Schuld
der Welt und ihrer Kinder.
Es geht und träget in Geduld
die Sünden aller Sünder.
Es geht dahin, wird matt und krank,
ergibt sich auf die Würgebank,
verzeiht sich aller Freuden.
Es nimmet an Schmach, Hohn und Spott,
Angst, Wunden, Striemen, Kreuz und Tod
und spricht: Ich will’s gern leiden.


Ein Lämmlein. Das Lied beginnt mit dem Bild eines Lammes, das traditionell ein Symbol für Frische, Unschuld, neues Leben, aber auch Verletzlichkeit und Schutzlosigkeit ist. Typische Reaktionen auf den Anblick eines Lammes sind etwa: "O, wie süß!" oder "Das tut uns nichts!" Vielleicht meldet sich im Hinterkopf auch gleich das Gegen-Bild des bösen Wolfes, der ja Lämmer reißt und frisst, und wir denken unwillkürlich: "Hoffentlich passiert diesem süßen Lamm nichts."
Das Bild entfaltet sich weiter: Ein Lämmlein geht und trägt die Schuld. Abruptes Ende der Idylle, ade, Streichelzoo. Dieses Lamm ist ein Opfertier, das feierlich auf einem Altar geschlachtet werden soll, um die Schuld von Menschen zu sühnen. Das gab es in vielen Religionen, am ausgiebigsten und zentralsten im alten Judentum, das ein ganzes System von Opferhandlungen kannte. Es begann mit dem Passalamm beim Exodus aus Ägypten, mit dessen Blut die Israeliten die Pfosten und den Sturz der Eingangstür ihres Hauses zu bestreichen hatten, damit der Todesengel sie verschonte(2. Mose 12). Nach dem Bundesschluss am Sinai wurden erst in dem Zeltheiligtum, später dann im Tempel in Jerusalem unzählige Lämmer geopfert, um die Vergebung der Schuld durch Gott zu erwirken.
Und damit kommen wir zu dem, was Johannes der Täufer ausrief, als Jesus zu ihm kam: "Siehe, das ist Gottes Lamm, das der Welt Sünde trägt!" (Johannes 1,29). Das Lämmlein ist niemand anderes als Jesus Christus. Er hat in der Bibel viele Titel. Er ist der Sohn des Vaters, der Schöpfer, der Lehrer und das Vorbild der Jünger, der Richter, der König aller Könige und Herr aller Herren. Aber eben auch – und ganz zentral –das Opferlamm. Für wen ist er das Opferlamm? Er trägt die Schuld der Welt und ihrer Kinder, er trägt die Sünden aller Sünder. Das Lämmlein trägt die Schuld aller Menschen, ja des ganzen Kosmos. Damit aber – und jetzt wird es auf einmal sehr persönlich – trägt es auch meine Schuld. Ein Lämmlein geht und trägt meine Schuld. Es gibt keine Sünde, die es nicht getragen hätte, keinen Sünder, für den es nicht gestorben wäre. Sogar für mich und meine Sünden ist es gestorben!

In den folgenden Zeilen malt Paul Gerhardt dieses Gehen und Tragen im Detail aus. Er war, was unsere Beziehung zu Gott bzw. Jesus Christus betrifft, ein Meister der Konkretheit, des Greifbaren, des Auf-den-Leib-Rückens. Und so schildert er, wie das Lamm matt und krank wird (so ganz das Gegenteil des Frühlingslammes auf den Osterkitsch-Postkarten), ja sich auf die Würgebank legt. Würgebank ist hier ein anderer Ausdruck für "Schlachtbank" (eine Art Tisch, auf den das Opfertier zum Töten und Zerlegen gelegt wurde). Die ganze Schilderung zeigt, dass dies hier kein gewöhnliches Opfertier ist, denn dieses Lamm wird nicht von Menschen gepackt und auf die Schlachtbank gelegt, sondern es begibt sich freiwillig darauf, wie das folgende verzeiht sich aller Freuden (in neueren Ausgaben des Liedes heißt es hier: entsaget allen Freuden) weiter ausmalt.

Es nimmet an Schmach, Hohn und Spott, Angst, Wunden Striemen, Kreuz und Tod: Die Beschreibung dessen, was das Lamm alles für die Sünder auf sich nimmt, ist eine allmähliche Steigerung, die von dem bloßen Beschimpft und Verlacht Werden bis zum Tod geht. Schmach, Hohn und Spott sind Dinge, die heute geradezu tagesaktuell sind; es ist das, was den Dissidenten, den Querdenkern, den Stellern unangenehmer Fragen, den sich nicht dem Mainstream Unterordnenden blüht. Die Angst kommt hinzu, wenn die persönliche Existenz in die Schusslinie gerät, Wunden und Striemen lassen an wütende Mobs, brutale Polizeieinsätze und unsanfte Verhörmethoden denken, und am Ende steht die ultimative Waffe – der Tod.

Es gibt heute Menschen, die sich freiwillig in die Schusslinie begeben, weil sie Lügen aufdecken, Verbrechen verhindern, Verschwörer und Übeltäter bremsen wollen. Das Lamm Gottes geht freiwillig bis in den Tod, weil es die Lügner erlösen, die Verbrecher mit Gott versöhnen und den Übeltätern und Verschwörern den Himmel öffnen will. Noch einmal: Es trägt die Schuld der gesamten Welt und ihrer Kinder. Und es trägt sie aus eigenem Antrieb, entschlossen und freiwillig. Der Sohn Gottes spricht zum Vater: Ich will’s gern leiden.

Es wird heute viel von Gottes Liebe gefaselt. Hier sehen und hören wir, was diese Liebe ist: Das Lamm Gottes trägt meine Schuld, es entsagt allen Freuden, es nimmt Leiden bis zum bittersten Tod an, und das alles gern.

2. Das Lämmlein ist der große Freund
und Heiland meiner Seelen.
Den, den hat Gott zum Sünden-Feind
und Sühner wollen wählen.


Die zweite Strophe führt uns vor Augen, warum das Lamm Gottes all dies auf sich nimmt. Es ist der Heiland meiner Seele. Das Wort "Heiland" gehört in der deutschen Sprache zu den aussterbenden Wörtern. Es ist ein Substantiv, das auf das Althochdeutsche zurückgeht und von dem Verb "heilen" abgeleitet ist. Der Heiland ist wörtlich "der Heilende" bzw. "heil machende". Was heilt er? Unsere Seele. Die Seele haben wir uns hier als den innersten Kern des Menschen vorzustellen, speziell in seinem Bezug auf Gott und die unsichtbare Welt. Dieser Kern überdauert unseren physischen Tod. "Die Seele altert nicht", sagte mein Vater, als er in die Jahre kam. Unser Körper wird einmal in die Nichtexistenz sinken. Die Seele nicht. Und Jesus ist exakt dazu in die Welt zu kommen, um unsere Seele zu heilen, zu retten, zu erlösen. Nicht unseren Blutdruck oder unser Immunsystem. Nicht unsere berufliche Karriere. Nicht unser Bankkonto. Noch nicht einmal unser Ideale oder unseren guten Ruf. Nein, er ist der große Arzt und Retter meiner Seelen.

Aber warum ist er der Heiland der Seele? Wegen unserer Sünde. "Sünde" meint in der Bibel unseren angeborenen Aufstand gegen Gott, unsere instinktive Ablehnung seiner Gebote, den unzähmbaren Drang, "mein Ding zu machen", das Böse zu wählen. Und jetzt aufgepasst: Jesus Christus, das Lamm Gottes, ist der Sünden-Feind. Er hasst Sünde – weil sein Vater sie auch hasst. Er sagt nicht Ja zu allem, was ich tue, sage und denke. Ich habe es mit einem Retter zu tun, der zu vielem von dem, was in meinem Leben vorgeht, Nein sagt. Weil er Gott ist, weil er heilig ist, weil Sünde einfach nicht geht. Und gleichzeitig ist er der Sühner, d.h. der Versöhner zwischen Gott und mir. Sühne leisten, das bedeutet in der Alltagssprache wiedergutmachen, etwas wieder in Ordnung bringen. Es bedeutet auch, einen Zustand der Feindschaft zu beenden. Wo Sühne geleistet worden ist, da gilt der Satz: "Es ist wieder gut."

Für Paul Gerhardt wie für die gesamte damalige lutherische Theologie war sowohl die Tatsache, dass der Mensch ein Sünder ist, als auch, dass er erlösungsbedürftig ist, eine absolute Selbstverständlichkeit. Es war klar, was das Grundproblem von uns Menschen war: Wir sind Rebellen gegen Gott und seine Ordnungen, und damit haben wir uns Gott zum Feind gemacht. Große Preisfrage: Wie können wir es verhindern, dass Gott unser Feind bleibt und wir unseren Aufstand gegen ihn selber ausbaden müssen? Mit dem jungen Luther formuliert: Wie kriege ich einen gnädigen Gott? Und ebenso klar war für Paul Gerhardt, was die Antwort und die Lösung ist: Allein Jesus Christus, in seiner Rolle als Gottes Opferlamm, das die Sühne für unsere Sünden bewirkt und Frieden zwischen Gott und uns schafft.

Wir gelangen hier an einen Punkt, wo der Gegensatz zwischen dem Denken der Bibel und dem Denken des heutigen Menschen (bzw., wie es auch heißt, des "Zeitgeistes") sich in seiner ganzen schroffen Härte zeigt. Der Sinn, der Hintergrund, die Pointe der ganzen Sache mit Gott ist dieses: Wir brauchen Erlösung. So, wie wir von Natur aus sind, gehen wir verloren und wartet nach dem Tod das große schwarze Loch auf uns. Wir brauchen jemanden, der uns zum Heiland wird, der unser Freund ist, der uns rettet. Wir brauchen einen Sühner.

Und hier gibt es in der Geschichte der Religionen einen großen Gegenentwurf: die These, dass der Mensch nicht Erlösung, sondern Erkenntnis braucht. Ungefähr parallel zu der jungen Kirche entwickelte sich im alten Orient die religiöse Strömung der Gnostik (nach Gnosis, "höhere Erkenntnis"), nach welcher nicht die Sünden der Menschheit das große Problem waren, sondern ihr mangelndes Wissen über das, was die Welt im Innersten zusammenhält. Gefragt war der erleuchtete, in seinem Denken erwachsen gewordene Mensch, der sich dem Licht der Gottheit annäherte, um irgendwann mit ihm zu verschmelzen. Die Religion der Gnostik hat beharrlich versucht, die christliche Kirche zu unterwandern und umzudrehen. Es ist gut möglich, dass ohne sie der Kirche manche Irrfahrten unter anderem im Bereich der Sexualität (Priesterzölibat, sexuelle Freude als etwas an sich Widergöttliches etc.) erspart geblieben wären. Aber auch die nicht auszurottenden Ansätze zu einer Religion der Selbsterlösung sind gnostischen Ursprungs.

Aber ist das nicht Schnee von vorgestern? Was hat die Frontstellung zwischen Erlösung und Erkenntnis denn mit uns heute zu tun? Eine ganze Menge. Wir erleben heute zum wiederholten und möglicherweise letzten und endgültigen Mal in der Politik den Versuch, eine neue Welt zu schaffen, mit den Mitteln der systematisierten Form von Erkenntnis, also der Wissenschaft – genauer gesagt, der jeweils politisch korrekten Versionen von Wissenschaft. "Wir schaffen das", lautet das große Mantra. Dass Klimawandel, Naturkatastrophen, Kriege und Pandemien auch, ja primär etwas mit Gott und unserem Ungehorsam gegenüber ihm zu tun haben könnten und dass wir mithin erst einmal Erlösung brauchen, bevor wir die Probleme der Welt anpacken können, kommt den Utopisten nicht in den Sinn.

Aber auch in der Religion bzw. Theologie herrscht der Drang nach Erkenntnis vor. Die historisch-kritische Theologie und die verschiedenen Spielarten des Evangelikalismus haben eines gemeinsam: den Versuch, Systeme zu konstruieren, die die Bibel und letztlich Gott selber menschlich systematisierbar, erklärbar, vorhersehbar machen. Hier der zergliederte, sezierte, in kluge Bücher mit vielen Fußnoten aufgelöste Gott der "wissenschaftlichen" Theologie, von dem wir dank der Wissenschaft zu wissen glauben, wie er "wirklich" ist, dort "bibeltreue" Theologien, die oft der Bibel nur scheinbar demütig gegenübertreten und wacker versuchen, Gott über die Schulter zu schauen, ihn erkennend in den Griff zu bekommen, seine "Pläne" zu ermitteln und zu bestimmen, an welchem Punkt der Heilsgeschichte wir gerade stehen und wo wir in hundert Jahren stehen werden. Das Zentrum des Christentums und eines rettenden Glaubens ist immer und nur die Erlösung durch das am Kreuz vergossene Blut Jesu, und nicht, was wir alles über Gott und seine angeblichen Pläne und Absichten wissen oder wie tief wir in die "Geheimnisse" der Bibel eingedrungen sind (sprich: Gott in die Karten schauen können). Man kann sich vor lauter Bibelwissen und theologischer Klugheit so weit von Jesus entfernen, dass man eigentlich gott-los dasteht – und das noch nicht einmal merkt.

Der Mensch, der in der Passionsgeschichte im Neuen Testament der Erlösung am nächsten ist, ist der berühmte Schächer am Kreuz, und nicht einer der anwesenden bibelfesten Pharisäer. Kein Wunder, dass vielen Frommen bis heute der Schächer nicht ganz geheuer ist.

"Geh hin, mein Kind, und nimm dich an
der Kinder, die ich ausgetan
zur Straf und Zornes-Ruten.
Die Straf ist schwer, der Zorn ist groß.
Du kannst und sollst sie machen los
durch Sterben und durch Bluten."


In der zweiten Hälfte der zweiten und der ersten Hälfte der dritten Strophe erleben wir einen fiktiven Dialog zwischen Gottvater und Gottsohn. Er beginnt mit Gottvater und benutzt Formulierungen, wie sie dem ehemals christlichen Deutschland des frühen 21. Jahrhunderts nicht fremder in den Ohren klingen könnten. Strafe? Zorn? Geht’s noch? Im Hintergrund steht hier natürlich eine jahrtausendelang praktizierte Methode der Bestrafung in der Kindererziehung: durch Schläge ("Ruten"). Das ist in den "fortschrittlicheren" Ländern der Welt (aber nur dort) seit Jahren gesetzlich verboten. "Richtige" Eltern schlagen ihr Kind grundsätzlich nie; sie wollen doch nicht grausam sein … Aber das war, wie gesagt, jahrtausendelang anders. Und Paul Gerhardt überträgt nun (wie Jahrtausende vor ihm schon die Bibel) dieses Züchtigungsrecht auf Gott. Die Menschen sind als Ebenbilder Gottes (1. Mose 1,26) gewissermaßen seine "Kinder", und Gott ist ihr "Vater". Damit aber hat er ein Anrecht auf ihren Gehorsam und ist berechtigt, sie zu bestrafen, wenn sie den Gehorsam verweigern. Gott kann sogar (anders als postmoderne Softie-Väter) "zornig" werden.

Der große Ungehorsams-Akt des Menschen gegenüber Gott war natürlich der in 1. Mose 3 erzählte Sündenfall. Er hat allen Menschen eine Strafe eingetragen, die schwer ist, und einen Zorn Gottes, der groß ist. So schwer und so groß, dass es nur eine Abhilfe gibt:

Du kannst und sollst sie machen los
durch Sterben und durch Bluten.


Hinter dem Sterben und Bluten Jesu steht der gesamte alttestamentliche Opferkult, der durch Jesu freiwilligen Opfertod am Kreuz erfüllt und gleichzeitig beendet wurde – nachzulesen z.B. in Matthäus 27,51 und ausführlich im Hebräerbrief. Jesus war und ist damit das Opferlamm der Weltgeschichte.

Wir verstehen allmählich besser, warum der heutigen Gesellschaft im Mutterland der Reformation, einschließlich der durchschnittlichen postmodernen Wohlfühlchristen in ihr, das Lied "Ein Lämmlein geht …" einen Pfahl ins Fleisch und einen Schauder über den Rücken treibt. Jawohl, dies ist unbequem und anstößig in höchstem Maße.

Auf den Auftrag des göttlichen Vaters an den Sohn folgt die Antwort des Sohnes:

3. "Ja, Vater, ja von Herzensgrund:
Leg auf, ich will dir’s tragen.
Mein Wollen hängt an deinem Mund,
mein Wirken ist dein Sagen."


Jesus hat den Auftrag des Vaters angenommen. Er war ihm gehorsam – "gehorsam bis zum Tode, ja zum Tode am Kreuz" (Philipper 2,8). Es war allein dieser Gehorsam, der unsere Erlösung möglich macht: "Wie durch den Ungehorsam des einen Menschen [Adam] die Vielen zu Sündern geworden sind, so werden auch durch den Gehorsam des Einen [Christus] die Vielen zu Gerechten" (Römer 5,19). Es ist ein Gehorsam, der das große Vorbild für den Gehorsam des Christen gegenüber Gott ist. Auch unser Wollen und unser Tun (Wirken) sollten sich ganz an dem orientieren, was Gott uns sagt (Mund, Sagen).

Hätte Jesus auch "Nein" sagen können? Durchaus, und hier hört die Parallele zum menschlichen Vater und menschlichen Sohn auf. Gott musste uns nicht erlösen.

Vor dem Hintergrund dieser schauerlichen Möglichkeit ist die zweite Hälfte der Strophe zu lesen:

O Wunder-Lieb! O Liebes-Macht!
Du kannst, was nie kein Mensch gedacht:
Gott seinen Sohn abzwingen.
O Liebe, Liebe, du bist stark,
du steckest den in Grab und Sarg,
vor dem die Felsen springen.


Hier spricht wieder der Liederdichter selber. Er kommentiert die Bereitschaft Jesu zur Erlösungstat. Es ist ein Kommentar, der um die richtigen Worte ringt, ein einziges stammelndes Staunen. Vier Mal das Wort "Liebe": Wunder-Lieb, Liebes-Macht, O Liebe, Liebe. Es ist ein Staunen, das die postmoderne Karikatur vom himmlischen Prügelvater lächerlich macht. Es geht beim Kreuz von Golgatha nicht nur um die Sühne für unsere Sünden, es geht, viel tiefer, um Gottes LIEBE. Der Gott, der die von ihm abgefallene Menschheit aus dem Paradies hinauswarf, weil dieses sonst zur Hölle geworden wäre, war der Gott der Liebe, und der Gott, der "seinen eigenen Sohn nicht verschont hat, sondern hat ihn für uns alle dahingegeben" (Römer 8,32), ist wieder der Gott der Liebe. Und auch der Gott, der nach dem zweiten Kommen Christi die Welt richten und neumachen wird, wird der Gott der Liebe sein.

Gottes Liebe offenbart sich uns nirgends so stark wie am Kreuz Jesu.

Vor dem die Felsen springen ist übrigens ein Verweis auf die Naturphänomene, die den Tod Jesu begleiteten. Matthäus 27,51 berichtet: "Und die Erde erbebte, und die Felsen zerrissen."

4. Du marterst ihn am Kreuzes-Stamm
mit Nägeln und mit Spießen.
Du schlachtest ihn als wie ein Lamm,
machst Herz und Adern fließen.
Das Herze mit der Seufzer Kraft,
die Adern mit dem edlen Saft
des purpur-roten Blutes.


Die vierte Strophe – sie ist in kaum einem heutigen Gesangbuch abgedruckt – beginnt mit einer drastisch-plastischen Beschreibung der Kreuzigung, die den Schauder und Widerwillen des Wohlfühlchristen noch vertieft. Die Worte marterst und schlachtest überfordern unsere Vorstellungskraft – hier handelt ja die Liebe aus der dritten Strophe, die in dem einleitenden Du wiederaufgenommen wird, hier handelt Gott an seinem eigenen Sohn! Doch genau dies war das, was im alttestamentlichen Opferkult mit jedem Opfertier geschah. Die Nägel sind die Nägel, mit denen Jesus am Kreuz befestigt wurde, die Spieße meinen die Lanze, die einer der Soldaten dem toten Jesus in die Seite stieß (Johannes 19,34). Man beachte die Beschreibung der Farbe des Blutes Jesu: Purpur-rot war damals die Farbe der Könige und Herrscher! Und der edle Saft der Erlösung, den dieses Blut darstellt, lebt in dem absoluten Zentralmysterium und -sakrament der Christenheit weiter: im Heiligen Abendmahl.

Damit endet die Schilderung des Sühneopfers Christi am Kreuz von Golgatha. Im Folgenden – bis zum Ende der achten Strophe – versucht der Dichter, die angemessene Reaktion auf diese unerhörte Wunder-Lieb und Liebes-Macht Gottes in Worte zu fassen. Denn dies ist klar: Wenn Jesus DAS für mich getan hat, kann mich das nicht kalt lassen. Einer solchen Liebe gegenüber ist Neutralität nicht möglich. Entweder ich lehne sie schroff und scheinbar aufgeklärt ab, oder ich stelle mir selber die Frage, mit der die vierte Strophe endet:

O süßes Lamm, was soll ich dir
erweisen dafür, dass du mir
erzeigest so viel Gutes?


Ab jetzt befinden wir uns in dem Lied in der "Ich"- Perspektive. Was jetzt kommt, betrifft mich ganz persönlich, und ich kann mich nicht davor verstecken. Hören wir nun die fünfte Strophe:

5. Mein Lebetage will ich dich
aus meinem Sinn nicht lassen.
Dich will ich stets, gleich wie du mich,
mir Liebes-Armen fassen.
Du sollst sein meines Herzens Licht,
und wenn mein Herz in Stücke bricht,
sollst du mein Herze bleiben.
Ich will mich dir, mein höchster Ruhm,
hiermit zu deinem Eigentum
beständiglich verschreiben.


Viele von uns kennen das geflügelte Wort, das ernste Christen Jesus in den Mund gelegt haben: "Das tat ich für dich. Was tust du für mich?" Der erste Teil der Antwort lautet: Ich will Jesus zum Ein und Alles meines Lebens machen. Paul Gerhardt schildert dies auf eine Art, die man heute als "ganzheitlich" charakterisieren würde. Er tut es in vier Anläufen, die sich in den Worten Sinn, Liebes-Arme, Herz und Eigentum kristallisieren. Erstens: Ich will Jesus für den Rest meines Lebens aus meinem Sinn nicht lassen. Das Wort Sinn meint hier mein Bewusstsein, mein Denken, und dies in einem umfassenden, in die Tiefe gehenden Sinne. Missionare und Seelsorger versichern uns, dass jede Bekehrung ein fundamentales Um-Denken beinhaltet. Wem aufgegangen ist, was Jesus am Kreuz für ihn getan hat, dessen ganzes Denken wird hinfort um Jesus kreisen.

Zweitens: Ich will Jesus mit Liebes-Armen fassen – als Antwort darauf, dass er mich in seine Arme genommen hat. Dies ist nicht die Ebene des Denkens, sondern die der Körperlichkeit. An Jesus glauben betrifft nicht nur das Denken, sondern auch meinen Körper. Der Christ liebt Jesus nicht bloß mit seinen Gehirnzellen, sondern sozusagen mit Haut und Haaren. In der ergreifenden Endstrophe eines anderen Paul-Gerhadt-Liedes, Warum sollt’ ich mich denn grämen, heißt es:

Du bist mein, weil ich dich fasse
und dich nicht, o mein Licht,
aus dem Herzen lasse!
Lass mich, lass mich hingelangen,
da du mich und ich dich
leiblich werd’ umfangen.


Im Himmel werden wir nicht alles erklärt bekommen, sondern Jesus wird uns in die Arme nehmen! Geht es noch besser?

Drittens: Jesus, "das Licht der Welt" (Johannes 8,12), muss auch das Licht meines Herzens werden. Herz ist hier eine Ergänzung und gleichzeitig Vertiefung von "Sinn". Jesus erleuchtet nicht nur mein Denken, sondern mein ganzes Sein, das Zentrum meiner Persönlichkeit. In einer sprachlich genialen Verknüpfung erweitert Paul Gerhardt darauf das Bild des Herzens zu dem des zerbrechenden Herzens, was große Nöte im Leben beschreibt, aber natürlich auch den Tod. Ja, mein Herz kann in Stücke brechen, kaputtgehen, stehenbleiben – doch selbst dann soll und wird Christus mein Herze bleiben, der absolute Anker (dazu mehr in Strophe 9), der mich festhält.

Und schließlich das Gelübde, Jesu Eigentum zu werden, und dies entschlossen und für immer (beständiglich). Auch dies ist ein absolutes Kennzeichen einer Bekehrung zu Christus: dass ich nicht mehr mir selber, sondern Jesus gehöre.

6. Ich will von deiner Lieblichkeit
bei Nacht und Tage singen,
mich selbst auch dir zu aller Zeit
zum Freuden-Opfer bringen.
Mein Bach des Lebens soll sich dir
und deinem Namen für und für
in Dankbarkeit ergießen.
Und was du mir zu gut getan,
das will ich stets, so tief ich kann,
in mein Gedächtnis schließen.


Das Gelübde der fünften Strophe wird durch vier weitere Punkte präzisiert. Erstens das Zeugnis: Der Dichter möchte den ganzen Tag lang von dem, was Jesus für ihn getan hat, singen, und das sicher nicht nur für sich selber in Gedanken, sondern hörbar, für seine Mitmenschen. In einem erweiterten Sinne steht Singen auch für Rühmen, Weitererzählen, Weiterempfehlen. Zweitens das Opfer: Der Sänger will seine ganze Existenz Gott als Opfer darbringen, d.h. fortan für Gott leben. Man lese dazu Römer 12,1. Paul Gerhardt wird dabei psychologisch sehr präzise: Es handelt sich nicht um ein Opfer, das man aus Angst oder Verzweiflung heraus bringt, sondern um ein Freuden-Opfer. Christen müssen sich ihre Erlösung nicht nachträglich durch Wohlverhalten verdienen; das Opfer folgt vielmehr ganz natürlich aus der Freude über die Erlösung, die voll Realität ist und die uns keiner mehr nehmen kann.

Drittens die Dankbarkeit, wobei Paul Gerhardt unser Leben mit einem Wasserlauf vergleicht, der bei der Geburt entspringt und irgendwann in die neue Welt nach dem Tod münden wird. Und viertens schließlich das Gedächtnis: Der Sänger nimmt sich vor, das, was Jesus für ihn getan hat, nie zu vergessen. Die Erlösung am Kreuz ist dabei nicht ein Detailhäppchen für das Kurzzeitgedächtnis, sondern gehört zum fundamentalen Grundwissen (so tief ich kann), das ich nie mehr vergessen werde.

7. Erweitre dich, mein Herzens-Schrein,
du sollst ein Schatz-Haus werden
der Schätze, die viel größer sein
als Himmel, Meer und Erden.
Weg mit dem Gold Arabia,
weg, Kalmus, Myrrhe, Kassia –
ich hab ein Bessers funden.
Mein großer Schatz, Herr Jesu Christ,
ist dieses, was geflossen ist
aus deines Leibes Wunden.


Thema mit Variationen: Das Thema der Dankbarkeit und Lebenshingabe wird in der siebten Strophe durch eine neue Variation weitergeführt. Jetzt vergleicht der Sänger die durch Jesus Christus geschehene Erlösung mit einem Schatz, der, wie sich das für Schätze gehört, in einer Schatzkammer aufbewahrt wird, und dieses Schatz-Haus ist das Herz des gläubigen Christen. Man beachte die Aufforderung zur Vergrößerung: Aus dem bloßen Schrein muss ein ganzes Haus werden, wenn es für die Fülle der Erlösung, die Christus gebracht hat, genügend Platz geben soll. Der Dichter unterstreicht die Kostbarkeit des Schatzes Jesu Christi durch einen Vergleich mit "Schätzen" seiner Zeit: Damals waren nicht nur Gold, sondern auch Duft- und Heilstoffe wie Kalmus, Myrrhe und Kassia für den Normalbürger unerschwinglich; im Vergleich mit der Erlösung am Kreuz verblassen sie total (weg mit …). Unendlich wertvoller als sie alle ist dieses, was geflossen ist aus deines Leibes Wunden, also das Blut Christi. Denn: Das Blut Jesu macht uns rein von aller Sünde (vgl. 1. Johannes 1,7).

8. Das soll und will ich mir zu Nutz
zu allen Zeiten machen.
Im Streite soll es sein mein Schutz,
in Traurigkeit mein Lachen,
in Fröhlichkeit mein Saitenspiel,
und wenn mir nichts mehr schmecken will,
soll mich dies Manna speisen.
Im Durst soll’s sein mein Wasserquell,
in Einsamkeit mein Sprach-Gesell
zu Haus und auch auf Reisen.


Die achte Strophe wechselt, um in dem Bild eines finanziellen Schatzes zu bleiben, das Gold der Erlösung gleichsam in das Kleingeld des Alltags. Das Das im ersten Satz bezieht sich dabei auf den Schatz aus der siebten Strophe, also die Erlösung durch das Blut Jesu. Die Strophe nennt sechs Arten von Situationen, in denen der Christ Nutz[en] vom Blut Jesu hat: Streit, Traurigkeit, Fröhlichkeit, Frust (wenn mir nichts mehr schmecken will), Durst und Einsamkeit. (Das Manna erinnert dabei an das Manna auf der Wüstenwanderung der Israeliten.) Es sind lauter Grundsituationen der menschlichen Existenz, und ihre Nennung illustriert, dass die Erlösung durch das Kreuz etwas ist, was mein gesamtes Leben abdeckt; es gibt in meinem Leben absolut nichts, was nicht vom Blut Jesu berührt und geheilt werden kann. Die Erlösung ist nicht bloß etwas für den Sonntag, sondern für die ganze Woche, sie ist mitnichten nur etwas für die Religion oder das Frommsein. Sie macht zu allen Zeiten den entscheidenden Unterschied für mein Leben.

Wir kommen zum letzten Teil des Liedes – den Strophen 9 und 10, die Tod und Herrlichkeit thematisieren.

9. Was schadet mir des Todes Gift?
Dein Blut, das ist mein Leben.
Wenn mich der Sonne Hitze trifft,
so kann mir’s Schatten geben.


Zwei Gegensatzpaare führen die Todes-Thematik ein: Gift – Leben und Sonne – Schatten. Wohlgemerkt, wir reden nach wie vor vom Blut Jesu, das dieser am Kreuz für uns vergossen hat. Die Bibel betrachtet den Tod nicht als Erlöser und Freund, sondern als Feind (1. Korinther 15,26). Das Blut Christi ist der genaue Gegensatz des Todes; es bringt Leben.

Mit der Sonne Hitze macht der Dichter noch einmal einen Schritt zurück in das irdische Leben. Die zweite Hälfte der Strophe führt dies weiter aus:

Setzt mir des Wehmuts Schmerzen zu,
so find ich bei dir meine Ruh
als auf dem Bett ein Kranker.
Und wenn des Kreuzes Ungestüm
mein Schifflein treibet ümb und ümb,
so bist du dann mein Anker.


Den beiden Beispielen gemeinsam ist das Element der Ruhe bzw. des Zur-Ruhe-Kommens. Paul Gerhardt hat das Wort "Stress" noch nicht gekannt (und die Sache zumindest in dem heutigen Ausmaß auch noch nicht), aber diese Bilder sprechen unmittelbar in die Situation des modernen bzw. postmodernen Menschen hinein, der auf tausend medizinische, psychologische und manchmal auch religiöse Arten Ruhe sucht. Wehmut meint eine innere Trauer über Verluste (von denen Paul Gerhardt sein Quantum erlebt hat). Den inneren Frieden, den wir alle suchen (und diese Suche ist nur zu verständlich), finden wir bei Jesus; er ist, um im Bild zu bleiben, das Genesung bringende Bett des Kranken.

Das zweite Bild der Ruhe ist der Anker. Das Lebens-Schiff war damals ein vertrautes Bild, und der Anker war bereits in der frühen christlichen Kunst ein gängiges Symbol der Hoffnung und der Auferstehung von dem Tod. Das Kreuz in des Kreuzes Ungestüm meint nicht das Kreuz Christi als unsere Erlösung, sondern das Kreuz als Symbol für Lasten und Leiden.

Der Anker als Auferstehungssymbol leitet direkt über zu der letzten Strophe, die diese Auferstehung beschreibt. Wie wird es sein, wenn wir den Tunnel des Todes hinter uns haben und vor Jesus treten dürfen?

10. Wenn endlich ich soll treten ein
in deines Reiches Freuden,
so soll dies Blut mein Purpur sein,
ich will mich darin kleiden.
Es soll sein meines Hauptes Kron,
in welcher ich will vor dem Thron
des höchsten Vaters gehen
und dir, dem er mich anvertraut,
als eine wohlgeschmückte Braut
an deiner Seite stehen.


Das Reich ist das Reich Gottes, das auf jeden einzelnen Christen nach seinem Tod und auf die ganze Welt nach der Heilung des Kosmos durch den wiedergekommenen Christus wartet – ein Reich der übersprudelnden, jubelnden, ungeheuren Freude. Der Purpur in der dritten Zeile nimmt das purpur-rote Blut Christi aus der vierten Strophe wieder auf. Es wird jetzt zur himmlischen Kleidung der Erlösten.

Und zur "Krone" auf ihrem Kopf. Jesus trug am Kreuz eine Dornenkrone, die seine Ohnmacht karikieren sollte; auf den selig verstorbenen Christen wartet die "Krone der Gerechtigkeit" (2. Timotheus 4,8) bzw. die "Krone der Herrlichkeit" (1. Petrus 5,4).

Und dann der Höhepunkt: Wir werden neben Jesus vor dem Vater stehen, als Jesu wohlgeschmückte Braut – wieder ein Bild aus der Bibel, hier aus Offenbarung 21,2 und Jesaja 61,10. Aus dem nichtsnutzigen Kind, das zu Strafe und Zornes-Ruten bestimmt war (s. Strophe 2), ist die Braut Christi geworden.
Wie kann man ein solches Lied aus den Gesangbüchern verbannen?

Anwendung auf heute: Was "Ein Lämmlein geht" den Christen der COVID-, Gender- und Klimageneration zu sagen hat
Ich habe diese Auslegung von "Ein Lämmlein geht" im Spätsommer 2022 geschrieben – etwa zweieinhalb Jahre nach dem Beginn der Corona-Pandemie und der Corona-"Maßnahmen", während wir gleichzeitig erleben, wie im Mutterland der Reformation die Gender-Diktatur mit ihrer systematischen Zerstörung der Familie sowie die Klima-Diktatur feste Züge anzunehmen beginnen. Wer in der allgemeinen Verwirrung noch klar denken kann, steht fassungslos vor Gesetzen und Gesetzentwürfen, die noch vor zehn Jahren undenkbar waren. Es wird ernst für die Christen, sehr ernst. Hat uns in dieser Lage ein 350 Jahre altes Passionslied etwas zu sagen? Jawohl, und nicht nur "etwas", sondern es gibt uns die entscheidende Hilfe und Orientierung für das Überleben und die Erneuerung der Gemeinde Jesu Christi in den jetzt angebrochenen Verfolgungszeiten.

Wir leben im ehemaligen christlichen Abendland in einer religiösen und kirchlichen Welt, in der die Perspektiven und Proportionen nicht mehr stimmen, und die Stärke von Liedern wie "Ein Lämmlein geht" besteht darin, dass sie diese Perspektiven und Proportionen wieder geraderücken können.

Was ist denn die Zentralbotschaft, der Kern des "Lämmlein"-Liedes? Dass der Dreh- und Angelpunkt unserer Erlösung, das Fundament und die Definition des Evangeliums das Kreuz Christi ist, wo dieser als Gottes ultimatives Opferlamm sein Blut für meine Sünden vergoss und starb, damit ich leben kann. Am Kreuz erfüllte sich der alte Bund und begann, kurz darauf unterstrichen durch die Auferstehung, der neue. Es gibt nichts in der Welt und in den Religionen, was historisch, theologisch und eschatologisch wichtiger sein könnte als Christi Kreuz (und Auferstehung).

Dies bedeutet, dass der Schlüssel zum Verständnis der ganzen Sache mit Gott und der Schlüssel zum rechten Verstehen der Bibel in den vier Evangelien liegt, und innerhalb dieser wiederum in den Passions- und Auferstehungsberichten. Der Rest des Neuen Testaments ist im Wesentlichen ein Stück frühe Kirchengeschichte sowie die Auslegung und praktische Anwendung des Kreuzestodes und der Auferstehung Christi. Die große biblische Musik spielt nicht im 3. Buch Mose, in den Sprüchen oder in der Johannesoffenbarung, sondern in den Evangelien.

Diese Zentralität des Kreuzes und der Erlösung ist im Laufe der Kirchengeschichte gleich mehrfach verlorengegangen. In der "wissenschaftlichen" ("historisch-kritischen") Theologie wird die Kreuzigung Christi als antiker Justizskandal, aber nicht als Sühnetod und Erlösungsakt gesehen und die Auferstehung in die Kategorie der Fakenews geschoben. So etwas kann den "Evanglikalen" und "Bibeltreuen" natürlich nicht passieren. Doch ihnen passiert dafür nicht selten anderes, nicht weniger Ernstes: Der Sühnetod Jesu steht nicht mehr im Zentrum ihres religiösen Denkens. Er wird als wahr vorausgesetzt und abgehakt, damit die Frommen sich anschließend den "eigentlichen" Fragen zuwenden können. Die einen untersuchen, was man alles "richtig machen" muss, um auch wirklich ein Christ zu sein und sich den Himmel zu verdienen – eine Falle, vor der Paulus in seinem Galaterbrief mit schärfsten Worten gewarnt hat. Und die anderen stürzen sich mit aller Kraft auf das Thema "Endzeit", diskutieren sich die Köpfe heiß, wer der Antichrist sein wird (oder vielleicht schon ist?), verteilen die Posten im "Tausendjährigen Reich" und hoffen inständig, dass sie, bevor es richtig schlimm wird mit den Verfolgungen, rechtzeitig "entrückt" werden (obwohl dergleichen noch keinem Märtyrer je passiert ist und auch nirgends verheißen wird). Gerade zur Zeit hat diese Szene mit ihrem Eskapismus bei manchen wieder Hochkonjunktur.

Wie haben die Kirchen, Gemeindeleitungen und die meisten der ganz normalen Gläubigen denn reagiert, als die "Maßnahmen" gegen Corona kamen? Ich lasse jetzt die bibelkritischen Theologen beiseite und konzentriere mich auf die "Frommen". Als 2020 der erste Lockdown kam, tönte es unter den Bibelfesten und Bibeltreuen sofort: "Endzeit!" Gleichzeitig ließen sie – nicht selten in vorauslaufendem Gehorsam – das Heilige Abendmahl (also das Kernstück des Gottesdienstes) ausfallen, verzichteten auf maskenfreies Singen oder auf Singen überhaupt und ließen das Ordnungsamt wissen, wer alles zu ihnen in den Gottesdienst kam. Falls sie denn überhaupt noch zum Gottesdienst zusammenkamen.

Wohlgemerkt: Was hier geopfert wurde, war nicht der Spiele-Abend für die Familien oder das Lagerfeuer für die Jugend; es war der absolute Kern eines echten, vollgültigen christlichen Gottesdienstes. Es gibt objektiv nichts Wichtigeres als das offene Predigen und Besingen der Erlösungstat Christi, einschließlich der Feier des Abendmahls. Aber in den Köpfen vieler, vieler Christen, Pastoren und Gemeindeleiter war das Wichtigste auf einmal der Gedanke: Was, wenn das Ordnungsamt uns in die Bude kommt und wir Strafe zahlen müssen? Ade, Kreuz; bitte hab Verständnis, Jesus ...

Es sei hier daran erinnert, dass laut unmissverständlichem biblischen Zeugnis (vgl. die Passionsberichte und 1. Korinther 11) das Heilige Abendmahl von Jesus, dem Gotteslamm, höchstpersönlich a) eingesetzt und b) angeordnet worden ist. Wenn es wahr ist, dass man als Christ Gott mehr gehorchen muss als den Menschen (vgl. Apostelgeschichte 5,29), dann kann das traurige Fazit nach zweieinhalb Jahren COVID nur lauten, dass der Evangelikalismus in Deutschland in diesen zweieinhalb Jahren implodiert ist. Gehorsam gegenüber dem Herrn der Kirche (und auch "Bibeltreue") sieht anders aus.

Aber ist COVID nicht eine Bedrohung, wie es sie in der Geschichte der Menschheit noch nie gegeben hat? Lieber Paul Gerhardt, was konntest du denn von Pandemien wissen? Nun, Paul Gerhardt hat in der Tat keine modernen Grippeviren erlebt. Aber dafür die Pest. Gegen die gute alte Pest ist COVID ein laues Lüftchen; da starben, wenn es richtig schlimm kam, nicht 0,5 Prozent der Stadtbewohner, sondern eher 50 Prozent. Nein, die Christen und Gemeinden des frühen 21. Jahrhunderts haben keine Entschuldigung.

Aber jedes Versagen ist ja die Chance zur Umkehr und Buße. Wie kann diese Umkehr für uns heute aussehen? Gerade ein Lied wie "Ein Lämmlein geht" kann es uns zeigen.

Der große Gehorsamsschritt, von dem alles Weitere abhängt, ist dieser: Stellt das Kreuz Christi, das Blut Christi, das Lamm Gottes, das die Sünden der Welt trägt, wieder in den Mittelpunkt. Wachstum im Glauben geschieht nicht dadurch, dass ich das Kreuz abhake und mich frommer Werkgerechtigkeit oder pseudobiblischen Zukunftsspekulationen zuwende, die mich im Glauben angeblich weiter bringen, sondern allein dadurch, dass ich mich immer mehr in die Erlösungstat Christi vertiefe und sie immer mehr (man vergleiche die neunte Strophe) mein Leben, meinen Schatten, meine Ruhe und meinen Anker werden lasse. Christliches Erwachsenwerden heißt nicht: "Gehen wir zu den tieferen Dingen über", sondern: "Lerne und betrachte immer wieder neu das Einfache, Zentrale, Fundamentale. Lerne deinen Erlöser immer besser kennen, umarme ihn immer inniger, liebe ihn immer mehr."

Treue und Zeugnis (also griechich: Martyrium) besteht nie in Zukunftspekulationen und Programmen, sondern zeigt sich immer in meinem Verhalten und Reagieren hier und jetzt. Gott interessiert sich nicht dafür, wie ich es mit dem "Tausendjährigen Reich" halte oder ob ich an die "Vorentrückung" glaube. Aber er ist sehr gespannt darauf, was ich mache, wenn der Staat mir vorschreibt, ob und wie ich Gottesdienst halten darf.

Jawohl, wir stehen heute am Beginn umfassender Christenverfolgungen im ehemals christlichen Abendland. Und diese Verfolgungen bestehen werden nicht die, die sich am besten mit Endzeitspekulationen auskennen, und schon gar nicht die, die darauf setzen, dass der Staat sie verschonen wird, wenn sie sich nur genug ducken, sondern nur die, die unverdrossen am Kern des Evangeliums festhalten – dem Sühnetod und der Auferstehung Christi – und die ihren Heiland immer wieder neu durch Lieder und Liturgie, durch ein offenes Bekenntnis, durch Versammlungen und durch die Feier des Abendmahls ehren und verkündigen.

Ich will von deiner Lieblichkeit
bei Nacht und Tage singen,
mich selbst auch dir zu aller Zeit
zum Freuden-Opfer bringen.


Es sind allein solche Christen, die für die Wiederkunft Christi bereit sind, egal, wann sie kommt.


__________

Fußnote

1
Der Text folgt der Ausgabe: Paul Gerhardt, Geistliche Lieder (hg. Von D. Wendebourg in Zusammenarbeit mit A. Stegmann, Stuttgart: Reclam, 2013). Lediglich die Rechtschreibung ist um der leichteren Verständlichkeit behutsam an die heutige Rechtschreibung angepasst.


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