Warum sollt ich mich denn grämen?
Friedemann Lux



Warum sollt ich mich denn grämen?

(Paul Gerhardt)

1) Warum sollt ich mich denn grämen?
Hab ich doch Christum noch; wer will mir den nehmen?
Wer will mir den Himmel rauben,
den mir schon Gottes Sohn beigelegt im Glauben?

2) Nackend lag ich auf dem Boden,
da ich kam, da ich nahm meinen ersten Odem;
nackend werd ich auch hinziehen,
wenn ich werd von der Erd als ein Schatten fliehen.

3) Gut und Blut, Leib, Seel und Leben
ist nicht mein; Gott allein ist es, der's gegeben.
Will er's wieder zu sich kehren,
nehm er's hin; ich will ihn dennoch fröhlich ehren.

4) Schickt er mir ein Kreuz zu tragen,
dringt herein Angst und Pein, sollt ich drum verzagen?
Der es schickt, der wird es wenden;
er weiß wohl, wie er soll all mein Unglück enden.

5) Gott hat mich in guten Tagen
oft ergötzt; sollt ich jetzt nicht auch etwas tragen?
Fromm ist Gott und schärft mit Maßen
sein Gericht, kann mich nicht ganz und gar verlassen.

6) Satan, Welt und ihre Rotten
können mir nichts mehr hier tun, als meiner spotten.
Lass sie spotten, lass sie lachen!
Gott, mein Heil, wird in Eil sie zuschanden machen.

7) Unverzagt und ohne Grauen
soll ein Christ, wo er ist, stets sich lassen schauen.
Wollt ihn auch der Tod aufreiben,
soll der Mut dennoch gut und fein stille bleiben.

8) Kann uns doch kein Tod nicht töten,
sondern reißt unsern Geist aus viel tausend Nöten,
schließt das Tor der bittern Leiden
und macht Bahn, da man kann gehn zu Himmelsfreuden.

9) Allda will in süßen Schätzen
ich mein Herz auf den Schmerz ewiglich ergötzen.
Hier ist kein recht Gut zu finden;
was die Welt in sich hält, muss im Nu verschwinden.

10) Was sind dieses Lebens Güter?
Eine Hand voller Sand, Kummer der Gemüter.
Dort, dort sind die edlen Gaben,
da mein Hirt Christus wird mich ohn Ende laben.

11) Herr, mein Hirt, Brunn aller Freuden,
du bist mein, ich bin dein, niemand kann uns scheiden.
Ich bin dein, weil du dein Leben
und dein Blut mir zugut in den Tod gegeben;

12) Du bist mein, weil ich dich fasse
und dich nicht, o mein Licht, aus dem Herzen lasse.
Lass mich, lass mich hingelangen,
da du mich und ich dich leiblich werd umfangen.




Dieses Lied wurde von Paul Gerhardt (1607–1676) geschrieben, der lutherischer Pfarrer im Spreewald war und den Dreißigjährigen Krieg (1618–1648) miterlebte. Er musste auch die meisten seiner Kinder beerdigen, machte sich bei seinen Vorgesetzten unbeliebt und hatte definitiv nicht das, was man heute auf Neudeutsch das „good life“ nennt. Aber er hatte in einer ungeheuren Tiefe Gott zum Freund und hat über 130 geistliche Lieder geschrieben (z.B. „Ich steh an deiner Krippen hier“, „Fröhlich soll mein Herze springen“, „Wie soll ich dich empfangen“, „O Haupt voll Blut und Wunden“ , „Befiehl du deine Wege“ usw. usw.). In moderneren Gesangbüchern erscheinen sie meist nur noch in verstümmelter Form, sofern sie nicht (wie „Ein Lämmlein geht und trägt die Schuld“) ganz wegzensiert worden sind. Zu ernst, zu lang, zu streng halt.
Jetzt haben wir Corona. Man versuche einmal, der Corona-Angst mit dem zu begegnen, was heute viele Gemeinden unter „Lobpreisliedern“ verstehen. Klappt nicht. Zu flach, zu kurz, zu inhaltsleer.
Gehen wir die 12 Strophen einmal der Reihe nach durch.

Strophe 1: Wenn einer Grund hatte, sich zu „grämen“ (also Angst zu haben, absolut down zu sein), dann Paul Gerhardt selber, den das Leben so beutelte. Gleich in der ersten Strophe stellt er das Zentrum seines Lebens und seiner Lieder vor: Jesus Christus. Eine böse Welt, unfähige Regierungen, machtlüsterne Menschen und, ja, auch Krankheiten können uns alles nehmen. Aber es gibt Eines, was sie uns NICHT nehmen können: Jesus Christus, der uns am Kreuz erlöst hat, der den Tod besiegt hat und der einmal wiederkommen wird, um die Welt zu richten und alles neu zu machen. Das ist ungefähr so, als ob Straßenräuber mir die tausend Euro in meinem Portemonnaie wegnehmen – aber ich weiß, dass ich auf meinem Bankkonto eine Milliarde habe, an die noch nicht einmal das Finanzamt drankommt.
Frage: Hast du Jesus Christus?

Strophe 2: Die zweite Strophe ist eine höchst peinliche, aber heilsame Erinnerung daran, dass all unser irdischer Besitz etwas höchst Gefährdetes ist, das wir jederzeit verlieren können – ja mehr noch: das wir garantiert verlieren WERDEN, wenn es ans Sterben geht. Unsere Eltern sagten: „Das letzte Hemd (will sagen: das Leichenhemd, in welchem man in den Sarg gelegt wird) hat keine Taschen.“ Paul Gerhardt hat hier als Pastor natürlich an die Bibel gedacht: In seinem ersten Brief an Timotheus, Kapitel 6, Vers 7, schreibt Paulus: „Schließlich haben wir bei unserer Geburt nichts in die Welt mitgebracht, und wir können auch nichts mitnehmen, wenn wir sterben.“

Strophe 3: Eine Grunderkenntnis, die viele Wohlfühl-Christen heute vergessen haben: Alles, was wir haben, haben wir von Gott. Wir haben uns nicht selber zeugen und zur Welt bringen können. Und wenn wir sterben, steht auch da Gott dahinter. Bestimmt hat Paul Gerhardt auch hier an die Bibel gedacht, zum Beispiel an den restlos gebeutelten Hiob im Alten Testament, der, nachdem er erfahren hat, dass alle seine Kinder umgekommen sind, ausruft: „Der HERR (also Gott) hat’s gegeben, der HERR hat’s genommen; der Name des HERRN sei gelobt!“ (Hiob 1,21). DAS ist Christsein: dass wir Gott auch dann „fröhlich ehren“, wenn wer uns das, was er uns geschenkt hat, wieder genommen hat. Denn alles, was wir sind und haben, gehört ja gar nicht uns: „Gott allein ist es, der’s gegeben.“

Strophe 4: Mit dem „Kreuz“ sind hier Leiden, Krankheiten, Probleme gemeint. Manchmal hört man sogar: „Dieser Mensch ist wirklich ein Kreuz . . .“ „Angst und Pein“ gehören zu unserem Leben dazu. Dass Ungeheuerliche hier, was viele Wohlfühl-Christen komplett vergessen haben: Auf eine Art, die wir nie ganz verstehen werden, steht Gott selber hinter all dem Unglück in unserem Leben. So war es ja auch bei Hiob. Aber viele heutige Christen scheuen diese Tatsache wie eine Katze das Wasser.
Hat Gott auch den Corona-Virus „geschickt“? Ja, natürlich. Einer der ganz großen christlichen Denker des 20. Jahrhunderts, C.S. Lewis (er hat u.a. die Narnia-Geschichten geschrieben), hat Leid und Schmerz das „Megaphon Gottes“ genannt. Oft lässt Gott etwas Schlimmes in der Welt zu, um die Menschen wachzurütteln: „Hallo, ihr da, ich bin auch noch da! Wann kommt ihr endlich zurück zu mir?“ Ich bin absolut davon überzeugt, dass das auch jetzt, bei der Corona-Krise, so ist.
Und nicht vergessen; Gott kann unser Unglück auch wieder „enden“.
Frage: Glaubst du, dass Gott die Macht hat, die Corona-Epidemie zu beenden? Könnte es sein, dass Beten jetzt wichtiger ist als das Warten darauf, dass unsere neunmalklugen Wissenschaftler auch diese Krise in den Griff kriegen, indem sie rechtzeitig das rettende Medikament entdecken?

Strophe 5: Das ist möglicherweise die Strophe in dem ganzen Lied, die heutigen Wohlfühl-Christen am sauersten aufstößt. Sie klingt geradezu unverschämt, nicht wahr? Aber, wie Hiob in seinem Elend zu seiner Frau sagte, die ihn aufgefordert hatte, Gott abzusagen, wenn der solch ein Leiden zuließ: „Sollen wir das Gute aus Gottes Hand nehmen, das Schlechte aber ablehnen?“ (Hiob 2,10).
„Fromm ist Gott“ bedeutet nicht, dass Gott regelmäßig zur Kirche geht und bei Tisch nicht flucht; Paul Gerhardt benutzt das Wort „fromm“ hier in seiner älteren Bedeutung von „rechtschaffen“, „gerecht“. Wenn Gott uns „Gerichte“ (also Strafen) schickt, will er uns damit nicht kaputtmachen. Er bleibt „mäßig“, er lässt uns immer eine Tür zur Gnade und Hilfe offen.
Frage: Bejahen wir es, dass Gott auch strafen kann – auch uns? Der „liebe Gott mit Züchtigungsverbot“, der durch viele heutige Gottesdienste, Lieder und Gebete geistert, ist eine Erfindung von Menschen, die die Bibel nicht mehr kennen.

Strophe 6: Jetzt wird der Ton richtig triumphierend. Aber eines nach dem anderen: In vielen heutigen Kirchen und Gemeinden ist der Teufel (Satan) abgeschafft, und die „Welt“ ist dafür da, dass man sich an sie anpasst und das tun, was alle tun, denn man will ja kein altmodischer Spießer sein. Für Paul Gerhardt (und für jeden echten Christen!) ist der Teufel als der große Gegenspieler Gottes und Verführer der Menschen eine unheimliche Realität. Und der „Welt“ hat man ungefähr so vorsichtig zu begegnen wie ein Arzt einem hochansteckenden Patienten. Sorglos Mitmachen ist für Christen keine Option.
Aber seit der Kreuzigung und Auferstehung Jesu Christi sind Teufel und Welt im Prinzip entmachtet. Sie können sich noch eine Weile austoben, aber diese Weile ist begrenzt. Es kommt der Tag, wo Christus als Richter und König für alle sichtbar wiederkommen wird; das wird das Ende von Satan und Welt sein. Bis es so weit ist – lass sie ruhig spotten.
Frage: Bist du auch schon verspottet und verlacht worden, weil du Christ bist? Wenn nein, warum nicht?

Strophe 7: Es ist normal, dass wir Angst haben. Aber wenn Christen sich von der Angst beherrschen lassen und jeden Tag „verzagt“ durchs Leben gehen, dann stimmt etwas nicht. Das scheinbar Paradoxe und Widersprüchliche, aber in Wirklichkeit völlig Normale und Logische im Christenleben ist, dass wir sehr real Ängste und „Grauen“ erleben – aber uns davon nicht unterkriegen zu lassen brauchen. Selbst wenn der Tod an unsere Tür klopft, ja hereinkommt und uns „aufreibt“, „soll der Mut dennoch gut und fein stille bleiben.“ „Mut“ ist hier wieder ein Wort, das in einer älteren, uns heute nicht mehr bekannten Bedeutung verwendet wird; „Mut“ heißt hier so viel wie „Denken“, „innere Einstellung, „Gemütslage“. Gott sagt uns: Was auch passiert, du brauchst nicht in Panik zu geraten!

Strophe 8: Hier wird die Begründung für die Aussage in Strophe 7 gegeben. Für den Menschen, der Jesus Christus als seinen Erlöser und Herrn angenommen hat, ist der Tod nicht das Ende des Lebens, mit dem alles aus ist und wonach nichts mehr kommt, sondern das Ende aller „Nöte“. Er ist keine Betonwand, an der mein Lebens-Auto zerschellt, sondern eine Tür, durch die ich in den Himmel gehe.
Fragen: Hast du schon Jesus als deinen Erlöser und Herrn angenommen? Glaubst du, dass es einen Himmel gibt?

Strophe 9: Hier vergleicht Paul Gerhardt den Himmel nach dem Tod mit dem Leben in dieser Welt. Der Himmel, das ist Freude, Trost und, jawohl, auch Entschädigung für das Leiden, das wir in diesem Leben erfahren haben. „Ewiglich“ heißt: für immer. Die irdische Welt („hier“) dagegen gibt uns nichts, was wirklich dauerhaft ist und uns im Innersten befriedigt und froh macht. Alles Gute dieses Lebens muss vorübergehen – „im Nu verschwinden“. Dies ist ein weiterer der roten Fäden in der Bibel. „Menschen sind wie Gras, das verdorrt; ihre Schönheit verblasst so schnell wie die Schönheit wilder Blumen. Das Gras verdorrt und die Blumen welken“ (1. Petrus 1,24).
Menschen, die dies nicht mehr wissen, haben etwas ungeheuer Wichtiges verloren.

Strophe 10: Diese Strophe wiederholt die Aussage von Strophe 9, aber in umgekehrter Reihenfolge: erst das Nichtige des irdischen Lebens, dann der Himmel, wo Christus als guter Hirte (denken wir an den 23. Psalm) uns für immer „laben“ wird.
Frage: Hast du diese Hoffnung?

Strophe 11: Wir kommen zum Höhepunkt des Liedes. Jetzt geht das Nachdenken bzw. das Selbstgespräch des Liederdichters über in ein Gebet zu Gott bzw. Jesus Christus. Die erste Hälfte der Strophe fasst den Inhalt der Strophen 8 bis 10 noch einmal zusammen. Paul Gerhardt zieht jetzt alle Bilder-Register: Jesus ist mein „Hirte“, er ist mein „Brunn (Quelle) aller Freuden“, er gehört zu mir und ich gehöre ihm. „Niemand kann uns (Jesus und mich) scheiden.“ Wie Paulus im Römerbrief schreibt, ja fast schon singt: „Wer kann uns scheiden von der Liebe Christi? . . . Denn ich bin gewiss, dass weder Tod noch Leben, weder Engel noch Mächtige noch Gewalten, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Hohes noch Tiefes noch irgendeine andere Kreatur uns scheiden kann von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserm Herrn“ (Römer 8,35-39).
Die zweite Hälfte der Strophe nennt den Grund, warum das so ist: Am Kreuz hat Jesus sein Leben in den Tod gegeben, damit ich das wirkliche Leben bekomme; sein Blut, das er als Opferlamm für meine Sünden vergossen hat, macht mich frei von meiner Schuld, von der Hölle und dem Tod.
Frage: Wird in deiner Kirche/ Gemeinde/ Hausbibelkreis für das Blut Christi gedankt, und das nicht nur hin und wieder, sondern regelmäßig?

Strophe 12: In Strophe 11 ist Gottes Beitrag zu dem „du bist mein, ich bin dein“ genannt worden: das stellvertretende Sühneopfer am Kreuz von Golgatha. Jetzt kommt mein Beitrag, der gleich in zwei Bildern verdeutlicht wird: Ich „fasse“ Jesus Christus, das heißt ich halte ihn ganz fest und lasse ihn nicht mehr los. Und: Ich habe ihn in mein Herz aufgenommen.
Und schließlich die Bitte, die viele Jahrhunderte lang in der Kirche völlig normal war: die Bitte um ein seliges Sterben und danach den Himmel. Und wie stellt der Dichter sich den Himmel vor? Auf rosa Wolken sitzen und mit der Harfe klimpern? Oder ein pausenloser Lobpreisgottesdienst? Nein, sondern: „Da du mich und ich dich leiblich werd umfangen.“ In den heutigen Liederbüchern steht hier: „. . . ewig werd umfangen“, aber das ist eine typische Verwässerung eines ursprünglich absolut starken Textes, wie man ihn heute bei alten Liedern öfters in den Gesangbüchern findet. Also tatsächlich und wörtlich: „LEIBLICH werd umfangen.“ Der Himmel ist nicht die große Party. Und auch nicht eine gelehrte Vortragsserie, wo Gottes Engel mich darüber aufklären werden, was der tiefere Sinn des 2. Weltkriegs war, ob es einen Urknall gegeben hat oder wie der x. Vers im soundsovielten Kapitel der Johannesoffenbarung wirklich zu verstehen war.
Nein, der Himmel, das ist: JESUS CHRISTUS NIMMT MICH IN DIE ARME. Was braucht der Mensch mehr?
Ich empfehle allen, von 8 bis 88 Jahren, dieses Lied, alle 12 Strophen, auswendig zu lernen. Es ist Kraftnahrung für die Seele.
(Friedemann Lux, Nürtingen, den 26. März 2020)


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